Massenprozess in Tunesien endet mit langen Haftstrafen von 4 bis 66 Jahren gegen regierungskritische Persönlichkeiten – Beobachter warnen vor der Aushöhlung demokratischer Grundrechte in dem Land.
Tunis – Ein groß angelegter Strafprozess in Tunesien hat in dieser Woche für internationale Aufmerksamkeit gesorgt – nicht nur wegen der Länge der verhängten Haftstrafen, sondern auch wegen der politischen Tragweite. Am 19. April 2024, wurden mehrere prominente Oppositionspolitiker und regierungskritische Persönlichkeiten von einem tunesischen Gericht in erster Instanz wegen des Vorwurfs des Komplotts gegen die Staatssicherheit zu teils drastischen Freiheitsstrafen verurteilt. Die Entscheidung wirft nicht nur in Tunesien Fragen zur Zukunft politischer Freiheitsrechte in dem nordafrikanischen Land auf, dass einst als Hoffnungsträger für Demokratie aus dem sog. Arabischen Frühling hervorstach.
Zwischen 4 und 66 Jahren Haft
Wie die staatliche tunesische Nachrichtenagentur TAP berichtet, fällte das Gericht Haftstrafen zwischen 4 und 66 Jahren gegen insgesamt rund zwanzig Angeklagte. Zu den Verurteilten zählen unter anderem der ehemalige Premierminister Hamadi Jebali, weitere frühere Minister sowie bekannte Persönlichkeiten aus dem Umfeld der islamisch-konservativen (islamistischen) Partei Ennahda, die seit Jahren im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen mit dem derzeitigen Präsidenten Kaïs Saïed steht.
Die höchste Strafe von 66 Jahren wurde gegen einen führenden Oppositionsakteur verhängt, dem die Anklage vorwarf, „staatliche Strukturen destabilisieren“ zu wollen. Mehrere der Verurteilten wurden in Abwesenheit abgeurteilt – ein Umstand, der die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens in Frage stellt.
Der Vorwurf: „Komplott gegen die Staatssicherheit“
Der zentrale Vorwurf gegen die Angeklagten lautet auf Beteiligung an einem Komplott zur Untergrabung der inneren Sicherheit des Staates. Diese Anklage wird von Kritikern jedoch als politisch motiviert bezeichnet. Internationale Menschenrechtsorganisationen und Beobachter sprechen von einem Muster, das sich in der tunesischen Innenpolitik seit der Machtkonzentration durch Präsident Saïed zunehmend etabliere: Der Vorwurf des Staatsverrats wird als Mittel genutzt, um oppositionelle Stimmen auszuschalten.
Mehrere Angeklagte wiesen die Anschuldigungen entschieden zurück und erklärten, es handle sich um eine gezielte Kampagne zur Einschüchterung der politischen Opposition. Auch unabhängige Juristen äußerten Bedenken bezüglich des fairen Verfahrensstandards und der Transparenz der Ermittlungen.
Eine bedrohliche Signalwirkung für die Region
Die Urteile in Tunis haben über die Landesgrenzen hinaus politische Bedeutung – insbesondere in Algerien, wo Regierung und Justiz in den letzten Jahren zunehmend Kritiker und oppositionelle Bewegungen unter Druck gesetzt haben. In einem geopolitischen Umfeld, das durch wirtschaftliche Unsicherheit und gesellschaftliche Spannungen geprägt ist, stellt sich die Frage, ob autoritäre Tendenzen in der Region zunehmen – zulasten demokratischer Errungenschaften. Auch für die EU muss ein solches Vorgehen und Urteil eine Rolle spielen, wenn es darum geht, wie derzeit in Brüssel diskutiert, Tunesien neben Marokko als sicheres Herkunftsland einzustufen und so Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern ablehnen zu können.
Die Rolle der Opposition in demokratischen Systemen
Unabhängige politische Opposition ist ein wesentlicher Pfeiler jeder funktionierenden Demokratie. Sie sorgt für politische Vielfalt, kontrolliert die Regierung und bietet den Bürgerinnen und Bürgern Alternativen. Werden oppositionelle Stimmen kriminalisiert oder durch juristische Mittel zum Schweigen gebracht, verliert ein politisches System seine Legitimität und seine Fähigkeit zur Selbstkorrektur.
Auch wenn Regierungen ein legitimes Interesse daran haben, gegen echte Bedrohungen der nationalen Sicherheit vorzugehen, muss stets sichergestellt sein, dass rechtsstaatliche Prinzipien gewahrt bleiben – insbesondere das Recht auf faire Verfahren, freie Meinungsäußerung und politische Teilhabe. Wenn diese Prinzipien durch vage Anklagen und langjährige Haftstrafen ausgehöhlt werden, entsteht der Eindruck, dass nicht Sicherheit, sondern Machtkonsolidierung das wahre Ziel ist.
Die Urteile aus Tunesien markieren möglicherweise einen weiteren Schritt hin zu einem autoritäreren Kurs im Maghreb. In einer Zeit, in der die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage vieler Länder der Region ohnehin angespannt ist, wäre ein nachhaltiger demokratischer Dialog wichtiger denn je. Die internationale Gemeinschaft – einschließlich der Nachbarstaaten wie Algerien, das für Tunesien ein wichtiger Partner in Fragen der Politik und Wirtschaft ist, – wird daran zu messen sein, wie sie sich zur Rolle der Opposition und zur Wahrung grundlegender Freiheitsrechte positioniert.