Ein Bericht der Hohen Kommission für Planung (HCP) zeigt mit einer detaillierten Analyse, wie stark und ungleich multidimensionale Armut in Marokko ausgeprägt ist – und wer besonders betroffen ist.
Rabat – Die Hohe Kommission für Planung (HCP) hat im Mai 2025 eine tiefgreifende Analyse zur mehrdimensionalen Armut in Marokko vorgelegt. Der Bericht, mit 262 Seiten, markiert einen methodischen Umbruch: Statt Armut ausschließlich über Einkommensgrenzen zu definieren, berücksichtigt der neue Ansatz eine Vielzahl von Faktoren, die die Lebensqualität beeinflussen – darunter Bildung, Gesundheit, Wohnverhältnisse und Zugang zu Infrastruktur.
Dieser umfassende Zugang erlaubt es erstmals, präzise Armutskarten im wahren Sinne des Wortes für Gemeinden, Stadtviertel und ländliche Ortschaften zu erstellen. Ziel ist laut HCP nicht nur statistische Erkenntnis, sondern die gezielte Bekämpfung struktureller Benachteiligung (S. 2, Abs. 2).
Wo Armut am stärksten ist – regionale und soziale Muster
Die Analyse zeigt klar: Armut in Marokko ist nicht gleichmäßig verteilt. Besonders betroffen sind ländliche Gebiete im Süden, abgelegene Regionen im Atlasgebirge und Randlagen städtischer Ballungsräume. Dort ist die Kumulation mehrerer Defizite häufig: unzureichende Schulbildung, mangelhafte Gesundheitsversorgung, fehlende sanitäre Einrichtungen, keine stabile Stromversorgung oder schlechte Verkehrsanbindung.
So weist die HCP nach, dass in zahlreichen ländlichen Gemeinden mehr als die Hälfte der Haushalte mindestens drei schwere Entbehrungen gleichzeitig erleben (S. 18, Abs. 2). Diese „multidimensionale Verwundbarkeit“ tritt besonders in den Regionen Drâa-Tafilalet, Souss-Massa, Oriental und Teilen des Hohen Atlas auf.
Doch auch innerhalb urbaner Räume wie Casablanca, Fès oder Marrakech identifiziert der Bericht kleinteilige Armutszonen – oft in informellen Siedlungen oder Randgebieten. Diese Mikroräume werden in aggregierten Stadtstatistiken häufig übersehen, sind aber laut Bericht von hoher sozialpolitischer Relevanz (S. 17, Abs. 3).
Wer ist besonders betroffen?
Die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen lassen sich nach Angaben der HCP klar benennen:
- Kinder und Jugendliche in benachteiligten Regionen: Hohe Schulabbruchquoten und eingeschränkter Zugang zu weiterführender Bildung führen zu langfristiger Perspektivlosigkeit.
- Frauen in ländlichen Haushalten: Sie sind häufig mehrfach benachteiligt – durch geringe Bildung, eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten und fehlende ökonomische Selbstständigkeit.
- Ältere Menschen in abgelegenen Regionen: Diese Gruppe leidet besonders unter medizinischer Unterversorgung und Isolation.
- Haushalte ohne formelle Erwerbstätigkeit: Besonders betroffen sind Familien, deren Einkommen aus informeller oder saisonaler Arbeit stammt.
Die HCP weist darauf hin, dass mehrdimensionale Armut besonders verfestigt ist, wo sich soziale Benachteiligung über Generationen hinweg reproduziert (S. 4, Abs. 2).
Strukturelle Armut braucht strukturelle Antworten
Laut Bericht genügt es nicht, Armut über Transfers oder punktuelle Programme zu bekämpfen. Vielmehr sei eine lokal differenzierte Strategie notwendig, die auf die spezifischen Defizite der jeweiligen Region eingeht – sei es beim Ausbau von Schulen, dem Aufbau von Gesundheitszentren, der Verbesserung der Wohnqualität oder beim Zugang zu sauberem Wasser.
Die HCP sieht in der Kartierung ein politisches Werkzeug, das exakte Steuerung von Maßnahmen erlaubt – etwa in der sozialen Wohnraumförderung, im Gesundheitswesen oder bei Infrastrukturprojekten: „Diese Methodologie bietet eine Röntgenaufnahme für ein besseres Verständnis der räumlichen Verteilung der mehrdimensionalen Armut“ (S. 3, Abs. 3).
Herausforderungen bleiben
So innovativ die Analyse für marokkanische Verhältnisse auch sein mag, so groß sind auch die Herausforderungen bei der Umsetzung. Eine der größten Hürden: Die notwendige Koordination zwischen Ministerien, Provinzverwaltungen und lokalen Akteuren. Auch die Aktualisierung der Daten und die Verstetigung des methodischen Ansatzes werden laut HCP entscheidend sein (S. 5, Abs. 4).
Ein Weckruf mit datenbasierter Grundlage ür Politik und Zivilgesellschaft
Der HCP-Bericht zur mehrdimensionalen Armut liefert mehr als Statistik – er legt offen, wo Menschen in Marokko strukturell abgehängt sind, wer besonders betroffen ist und welche politischen Konsequenzen daraus erwachsen könnten. Der Paradigmenwechsel vom monetären zum mehrdimensionalen Armutsbegriff zeigt: Soziale Ungleichheit ist lokalisierbar, quantifizierbar – und damit auch bekämpfbar.
Die Kartierung kann ein Wendepunkt in der Sozialpolitik des Landes sein – wenn die gewonnenen Erkenntnisse in praktische Maßnahmen umgesetzt werden. Nur dann wird aus Analyse auch tatsächliche Veränderung.
Hier finden Sie den vollständigen Bericht (hier klicken):