Einblicke in die institutionelle Aufstellung des nordafrikanischen Königreichs nach der Verfassungsreform von 2011 und die Verteilung politischer Einflussbereiche.
Marokko, ein Königreich an der nordwestlichen Spitze Afrikas, ist für viele Beobachter im Maghreb eine faszinierende Mischung aus Tradition und Reformbestrebungen. Während das Land in den letzten Jahrzehnten wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen durchlaufen hat, bildet das politische System, insbesondere nach der Verfassungsreform von 2011, ein zentrales Element seiner Stabilität und Entwicklung. Dieser Artikel beleuchtet die institutionelle Aufstellung Marokkos, die Rollen der Monarchie, der Zentralregierung und des Parlaments sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten und Machtverhältnisse.
Die Verfassung von 2011 – Ein Schritt zur Modernisierung
Der Arabische Frühling erreichte auch Marokko und führte zu Protesten, die König Mohammed VI. mit einer umfassenden Verfassungsreform beantwortete. Die neue Verfassung, die im Juli 2011 durch ein Referendum angenommen wurde, sollte das politische System modernisieren, die Rolle des Parlaments stärken und bürgerliche Freiheiten erweitern. Sie war eine Reaktion auf den Wunsch nach mehr Partizipation und Transparenz, ohne jedoch die fundamentale Rolle der Monarchie in Frage zu stellen.
Die Monarchie – Das Zentrum der Macht
Die marokkanische Monarchie, repräsentiert durch König Mohammed VI., ist das unbestreitbare Zentrum des politischen Systems. Laut der Verfassung ist der König der höchste Repräsentant des Staates, der Bewahrer des Islams und der Garant der Einheit des Landes sowie der territorialen Integrität. Er ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat weitreichende Befugnisse in den Bereichen Religion, Verteidigung und Außenpolitik.

Die Verfassung von 2011 führte zwar einige Einschränkungen der königlichen Macht ein, indem sie beispielsweise die Rolle des Regierungschefs stärkte, doch die strategische Ausrichtung des Landes bleibt fest in den Händen des Monarchen. Der König ernennt den Regierungschef aus der Partei, die bei den Parlamentswahlen die meisten Sitze gewonnen hat, und hat das Recht, die Regierung zu entlassen. Er präsidiert den Ministerrat und kann Gesetze per Dekret erlassen. Diese Position ermöglicht es dem König, die politischen Geschicke des Landes maßgeblich zu beeinflussen und als letzte Instanz in wichtigen nationalen Fragen zu fungieren. Die Legitimität der Monarchie speist sich nicht nur aus der Verfassung, sondern auch aus ihrer langen Geschichte und der religiösen Stellung des Königs als Befehlshaber der Gläubigen (Amir al-Mu’minin).
Nach dem König als unumstrittene Spitze der politischen Hierarchie folgt der Regierungschef. Er leitet die Zentralregierung und ist für die Umsetzung der nationalen Politik verantwortlich. Seine Position ist aufgrund seiner exekutiven Befugnisse und der direkten Interaktion mit dem Monarchen ranghöher als die der Parlamentspräsidenten. Die Präsidenten des Repräsentantenhauses und der Kammer der Räte stehen in der protokollarischen Rangfolge darunter, wobei der Präsident des Repräsentantenhauses aufgrund der direkten Wahl seiner Kammer und ihrer primären Legislativfunktion tendenziell eine höhere politische Bedeutung hat als der Präsident der Kammer der Räte. Ihre Rollen sind primär auf die Gesetzgebung und parlamentarische Kontrolle konzentriert, während die operative Macht beim Regierungschef liegt.
Die Zentralregierung – Exekutive unter königlicher Führung
Die Zentralregierung wird vom Regierungschef (Chef du Gouvernement) geleitet, der seit der Verfassungsreform von 2011 eine stärkere Position einnimmt. Der Regierungschef ist für die Umsetzung des Regierungsprogramms zuständig und hat die Befugnis, die Regierung zu leiten und die Ministerien zu koordinieren. Die Verfassung legt fest, dass der Regierungschef das Vorschlagsrecht für die Ernennung von Ministern hat, auch wenn die endgültige Ernennung durch den König erfolgt.
Trotz der gestärkten Rolle des Regierungschefs bleibt die Regierung in ihrer strategischen Ausrichtung und wichtigen Entscheidungsfindung eng an die königliche Agenda gebunden. Viele Schlüsselpositionen, insbesondere in sicherheitsrelevanten Bereichen und Ministerien, die strategische Projekte steuern, werden oft nach königlicher Präferenz besetzt. Die Regierung ist somit das ausführende Organ, das die Politik des Königs umsetzt und die täglichen Angelegenheiten des Staates verwaltet.
Das Parlament – Ein Zweikammersystem
Das marokkanische Parlament ist ein Zweikammersystem, das aus dem Repräsentantenhaus (Chambre des Représentants) und der Kammer der Räte (Chambre des Conseillers) besteht.

- Das Repräsentantenhaus / Abgeordnetenkammer: Dies ist die direkt gewählte Kammer des Parlaments. Die Abgeordneten werden für eine Amtszeit von fünf Jahren in allgemeinen, direkten Wahlen gewählt. Das Repräsentantenhaus hat die Hauptverantwortung für die Gesetzgebung, die Verabschiedung des Staatshaushalts und die Kontrolle der Regierung. Es kann Misstrauensanträge gegen die Regierung stellen, die jedoch der Zustimmung des Königs bedürfen, um die Regierung tatsächlich zu stürzen. Die Parteien, die in dieser Kammer die Mehrheit bilden, sind entscheidend für die Bildung der Regierung.
- Die Kammer der Räte: Diese Kammer hat eine beratende und ergänzende Funktion. Ihre Mitglieder werden indirekt gewählt, hauptsächlich von lokalen Gebietskörperschaften, Berufsverbänden und Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen. Die Amtszeit beträgt sechs Jahre. Die Kammer der Räte prüft Gesetzentwürfe, die vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurden, und kann Vorschläge zur Änderung unterbreiten. Sie hat jedoch nicht die gleiche legislative Macht wie das Repräsentantenhaus und kann Gesetze nicht blockieren, sondern nur verzögern.
Die Rolle des Parlaments hat sich seit 2011 insofern gestärkt, als es mehr Initiativrechte und eine größere Kontrolle über die Regierung erhalten hat. Dennoch bleibt der Einfluss des Parlaments im Vergleich zur Monarchie begrenzt. Wichtige Gesetzesvorhaben, insbesondere solche von nationaler strategischer Bedeutung, werden oft im Königspalast initiiert oder müssen dort die Zustimmung finden. Die parlamentarische Arbeit ist daher oft darauf ausgerichtet, die königliche Vision in Gesetze zu gießen und die Regierung bei der Umsetzung zu unterstützen.
Das Justizwesen – Unabhängigkeit unter Beobachtung
Die Verfassung von 2011 betont die Unabhängigkeit der Justiz, was einen wichtigen Fortschritt darstellt. Der Oberste Justizrat, dessen Mitglieder vom König ernannt werden, ist für die Verwaltung der Justiz zuständig. Der König ist jedoch der Garant der richterlichen Unabhängigkeit. Obwohl Schritte unternommen wurden, um die Autonomie der Gerichte zu stärken, bleibt die königliche Autorität auch hier präsent, was zu einer komplexen Balance zwischen der proklamierten Unabhängigkeit und der faktischen Einflussnahme führt.
Wechselwirkungen und Machtgefüge
Das politische System Marokkos ist somit durch eine klare Hierarchie geprägt, an deren Spitze die Monarchie steht. Während die Verfassungsreform von 2011 bestimmte Machtverschiebungen zugunsten der gewählten Institutionen vorsah, fungiert der König weiterhin als entscheidender Akteur und Architekt der Politik.
Die Rolle der Monarchie geht über rein verfassungsrechtliche Befugnisse hinaus. Sie ist tief in der gesellschaftlichen und religiösen Identität Marokkos verwurzelt. Wichtige Entscheidungen, die die nationale Souveränität, die territoriale Integrität (insbesondere die Westsahara-Frage / marokkanische Sahara) und die grundlegende Ausrichtung des Landes betreffen, werden vom König getroffen oder maßgeblich beeinflusst.
Die Zentralregierung agiert als ausführendes Organ der königlichen Politik, während das Parlament die Aufgabe hat, diese Politik legislativ zu begleiten und zu überwachen. Auch wenn das Parlament an Einfluss gewonnen hat, sind seine Möglichkeiten, von der königlichen Agenda abzuweichen oder grundlegende politische Richtungswechsel herbeizuführen, begrenzt. Diese dynamische Balance zwischen monarchischer Führung und demokratischer Partizipation definiert das einzigartige politische System Marokkos.
Marokko hat mit der Verfassung von 2011 einen wichtigen Schritt in Richtung eines modernen Verfassungsstaates unternommen. Die Reformen stärkten die Rolle der gewählten Institutionen und der Zivilgesellschaft. Dennoch bleibt die Monarchie das dominante Element im politischen Gefüge, das die strategische Vision und die endgültige Autorität innehat. Für Beobachter und Interessenten der Region ist das Verständnis dieser komplexen institutionellen Architektur entscheidend, um die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen Marokkos adäquat einordnen zu können. Das Zusammenspiel von Tradition und Reform, von königlicher Autorität und parlamentarischer Beteiligung, prägt die fortlaufende Entwicklung dieses wichtigen nordafrikanischen Landes.
Marokko – Stabilität durch monarchische Prägung und sukzessive Dezentralisierung