Position zur Westsahara im Fokus bei der Suche nach einer inhaltlichen Haltung zu Marokko. Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen kollidieren mit Respekt gegenüber dem höchsten europäischen Gericht EuGH.
Berlin – Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in der vergangenen Woche das Agrar- und Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Königreich Marokko erneut als rechtswidrig eingestuft, nachdem er dies bereits 2019 getan hatte und die EU-Kommission Revision eingelegt hatte, weil es die Region Westsahara / marokkanische Sahara einbezog, auf die Marokko einen Hoheitsanspruch erhebt, der auf der Ebene der UNO aber noch nicht abschließend entschieden ist. Dieses Urteil bekräftigt die Notwendigkeit, die Rechte der Bevölkerung der Westsahara zu achten und widerspricht der EU und Marokko in der Auffassung, dass das Königreich ein Verhandlungsmandat für diese Region habe, was weitreichende Folgen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und Marokko haben könnte. Die direkte Folge wäre nun, dass keine Fischer aus der EU vor den Gewässern der Westsahara mit marokkanischer Erlaubnis fischen dürfen. Nach einer Schonfrist von 12 Monaten dürfen auch keine landwirtschaftlichen Güter mehr aus der Region in die EU importiert werden bzw. müssen ggf. das Hoheitssiegel „Made in Westsahara“ tragen (nicht mehr „Made in Morocco“).
Marokko – Agrar- und Fischereiabkommen mit der EU rechtswidrig.
Die Reaktionen der EU-Mitgliedstaaten und anderer betroffener Akteure fallen unterschiedlich aus, da viele Länder einerseits die Bedeutung des Völkerrechts betonen, aber gleichzeitig den wirtschaftlichen und strategischen Wert ihrer Beziehungen zu Marokko unterstreichen.
Hintergrund des Urteils und der schwierigen politischen Situation
Das Abkommen ermöglichte den Export von Agrarprodukten und Fischereigütern aus der Region Westsahara in die EU. Diese Region gilt jedoch bei den meisten Ländern der EU als von Marokko besetztes Gebiet, für das die Polisario-Front Unabhängigkeit fordert und mit algerischer Hilfe auch bewaffnet gegen Marokko kämpft. Der EuGH entschied, dass die Westsahara ohne Zustimmung der dortigen Bevölkerung nicht Teil des Abkommens sein darf. Dies stellt die EU vor die Herausforderung, wirtschaftliche Interessen mit dem Respekt vor dem höchsten europäischen Gericht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen in Einklang zu bringen.
Reaktionen der europäischen Mitgliedstaaten
Die Reaktionen der wichtigsten EU-Staaten auf das Urteil verdeutlichen die verschiedenen Ansätze, wie die rechtlichen und politischen Auswirkungen des Urteils bewertet werden. Die Bedeutung Marokkos für jedes Land der EU drückt sich sowohl in der Reaktionsgeschwindigkeit auf das Urteil als auch durch die Nähe oder den Abstand zum Gerichtsurteil, die in den Erklärungen zu finden ist.
Deutschland reagiert spät. – Anerkennung des Völkerrechts und diplomatische Abwägung
In einer offiziellen kurzen und knappen Stellungnahme des Auswärtigen Amts vom 7. Oktober 2024 zeigt sich Deutschland respektvoll gegenüber dem EuGH-Urteil und betont die Bedeutung des Völkerrechts.
„Wir nehmen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 04.10.2024 bezüglich der Handelsabkommen EU-Marokko im Bereich der Fischerei und landwirtschaftlicher Abkommen mit Respekt vor der Unabhängigkeit der Institution zur Kenntnis. Wir messen der „strategischen, multidimensionalen und privilegierten Partnerschaft“ zwischen der EU und Marokko großen Wert zu. Bilateral haben wir die Beziehungen zu Marokko erst im Juni durch den regelmäßig stattfindenden strategischen Dialog auf Außenministerebene intensiviert. Die Beziehungen zwischen der EU und Marokko sind langfristig, breit und auf Vertiefung hin angelegt. Dies hat die EU in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell am Freitag erneut unterstrichen.“
Diese differenzierte Position zeigt, dass Deutschland sowohl das Völkerrecht respektiert als auch auf die Bedeutung der Beziehungen zu Marokko hinweist. Auffällig ist, dass die stärkste Wirtschaftsmacht der EU erst drei Tage und mit deutlichem Abstand zu zahlreichen anderen Ländern auf die Situation reagiert. Dies könnte daran liegen, dass Deutschland und Marokko erst jetzt beginnen engere Beziehungen zu einander aufzubauen, die Bundesrepublik allerdings bei Fragen der aktuellen Energiesicherheit noch stärker auf das Nachbarland Algerien setzt, dass nicht nur ein Rivale Marokkos ist, sondern zu den wichtigsten Rüstungskunden Deutschland gehört.
Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen stehen für Spanien im Vordergrund
Spanien hat schnell auf das Urteil reagiert, da das Land traditionell enge Beziehungen zu Marokko pflegt und besonders von den Fischereiabkommen betroffen ist. Am 6. Oktober 2024 betonte der spanische Außenminister José Manuel Albares:
„Unabhängig von den juristischen Fragen des EuGH-Urteils bleibt es von entscheidender Bedeutung, dass die EU und Marokko ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit fortsetzen. Marokko ist ein unverzichtbarer Partner, insbesondere in den Bereichen Migration und Handel.“
Diese Aussage zeigt, dass Spanien den wirtschaftlichen Wert der Zusammenarbeit mit Marokko in den Vordergrund stellt und das juristische Urteil weitgehend relativiert. Der pragmatische Ansatz Spaniens zielt darauf ab, die bilateralen Beziehungen mit Marokko nicht zu gefährden, obwohl die rechtliche Bedeutung des Urteils anerkannt wird. In der Bewertung zeigt sich Spanien als stark wirtschaftlich motiviert und weniger durch völkerrechtliche Überlegungen getrieben.
Frankreich – Starke Unterstützung für Marokko – Urteil kommt zur Unzeit
Frankreich, traditionell ein enger Verbündeter Marokkos, ließ in seiner Stellungnahme bereits am 5. Oktober 2024 keinen Zweifel an seiner Haltung und bekräftigte die Bedeutung der Partnerschaft mit seinem ehemaligen Protektorat Marokko. Das französische Außenministerium erklärte: „Die Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Marokko ist von außergewöhnlicher strategischer Bedeutung, und Frankreich wird diese Partnerschaft weiterhin uneingeschränkt unterstützen. Das Urteil des EuGH ändert nichts an unserer Haltung, dass Marokko ein unverzichtbarer Akteur für die Stabilität und Sicherheit in der Region ist.“
Frankreich hebt nicht nur die strategische Bedeutung Marokkos hervor, sondern geht auch weniger auf die juristischen Aspekte des Urteils ein. Diese Haltung verdeutlicht, dass für Frankreich geostrategische Überlegungen Vorrang vor völkerrechtlichen Fragen haben. Der klare Fokus auf die strategische Partnerschaft macht deutlich, dass das EuGH-Urteil aus französischer Sicht die bilateralen Beziehungen nicht beeinträchtigen sollte. Darüber hinaus kommt das Urteil des EuGH für Paris zu einer Unzeit. Nach einer langen und schweren diplomatischen Krise zwischen Marokko und Frankreich verbessern sich gerade die Beziehungen wieder. Noch bis zum Ende des Monats Oktober wird der französische Präsident Macron zu einem offiziellen Staatsbesuch in Rabat erwartet. Dieser Besuch, der auf zweit Tage angesetzt sein soll, soll einen Schlussstrich zwischen den diplomatischen Verstimmungen der letzten beiden Jahre ziehen. Dazu ist Präsident Macron zum 25. Thronjubiläum von König Mohammed VI. am 29 Juli 2024 in Vorleistung getreten und hat sich eindeutig hinter den von Marokko 2007 der UNO unterbreiteten Autonomieplan für die Westsahara / marokkanische Sahara unter marokkanischer Souveränität gestellt. Sicherlich wird sich Präsident Macron der Frage in Rabat stellen müssen, was den die EU nun plane, um weiter Handel im Fischereisektor und bei landwirtschaftlichen Produkten mit Marokko treiben zu können.
Europäische Kommission – Balance zwischen Recht und Diplomatie
Die Europäische Kommission versuchte, einen ausgewogenen Ansatz zu verfolgen. In einer Erklärung vom 4. Oktober 2024, also am gleichen Tag der Presseerklärung des EuGH, betonten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell:
„Die EU bleibt entschlossen, ihre starke Partnerschaft mit Marokko zu bewahren und zu vertiefen. Gleichzeitig werden wir die notwendige Rechtssicherheit im Einklang mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sicherstellen.“
Diese Stellungnahme zeigt den Versuch der Kommission, einerseits die Rechtsprechung des EuGH zu respektieren, andererseits aber auch die wichtige Zusammenarbeit mit Marokko aufrechtzuerhalten. Der diplomatische Balanceakt spiegelt die Komplexität der Situation wider, da die EU versucht, sowohl rechtliche Normen zu wahren als auch geopolitische Stabilität sicherzustellen.
Algerien – Zufriedenheit mit dem Urteil des EuGH
Algerien, als direkter Nachbar, geopolitischer Rivale Marokkos und wichtigster Unterstützer der Frente Polisario, äußerte sich erfreut über das Urteil des EuGH. Das algerische Außenministerium veröffentlichte eine Erklärung, in der es seine Zufriedenheit zum Ausdruck brachte:
„Dieses Urteil bestätigt einmal mehr die Legitimität der Forderungen des sahrauischen Volkes nach Selbstbestimmung und die Ungesetzlichkeit der marokkanischen Besetzung der Westsahara. Algerien begrüßt die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und fordert die internationale Gemeinschaft auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen.“
Die Reaktion Algeriens ist nicht überraschend, da das Land traditionell die Polisario-Front sowohl politisch, finanziell und auch militärisch im bewaffneten Kampf gegen Marokko unterstützt und die Unabhängigkeit der Westsahara befürwortet. Algerien nutzt das Urteil, um seine Position zu festigen und Druck auf Marokko auszuüben. Damit wird das Urteil nicht nur als rechtlicher Sieg, sondern auch als politisches Instrument gegen Marokko betrachtet. Allerdings könnte man in Algier noch nicht weit genug vorausgedacht haben und sich ggf. derzeit über einen „Pyros Sieg“ freuen.
Marokko sieht die Notwendigkeit zu handeln bei der EU.
Das marokkanische Außenministerium reagierte entschlossen auf das EuGH-Urteil und wies es kategorisch zurück. In einer Erklärung vom 4. Oktober 2024 verurteilte Marokko das Urteil als politisch motiviert und als einen Angriff auf seine territoriale Integrität. Das Außenministerium betonte: „Marokko betrachtet dieses Urteil als juristisch und politisch falsch. Es ändert nichts an der Tatsache, dass die Westsahara ein untrennbarer Teil Marokkos ist. Die Agrar- und Fischereiabkommen bleiben für Marokko und die Europäische Union von strategischer Bedeutung, und wir erwarten, dass die EU weiterhin auf Grundlage gegenseitigen Respekts und gemeinsamer Interessen mit uns zusammenarbeitet.“
Marokkos Stellungnahme ist klar und kompromisslos. Das Land weist die Legitimität des Urteils vollständig zurück und bekräftigt seine territorialen Ansprüche auf die Westsahara. Darüber hinaus machte das Außenministerium unter der Leitung von Nasser Bourita klar, dass Marokko selbst nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen ist. Dies zeigt die unnachgiebige und inzwischen selbstbewusste Haltung Marokkos gegenüber internationalen Entscheidungen, die den Status der Westsahara / marokkanische Sahara infrage stellen, und deutet auf mögliche diplomatische Spannungen in den Beziehungen zur EU hin.
Marokko könnte sogar politischen Profit aus der Situation ziehen, ähnlich den diplomatischen Krisen mit Deutschland, Spanien und zuletzt Frankreich. Es hat sich bei all diesen Krisen gezeigt, dass die EU Marokko teils dringender braucht als das Königreich diese Länder, und auch in der Bevölkerung ist der Rückhalt groß, wenn es darum geht, die sogenannten „höchsten Interessen des Landes“ zu vertreten bzw. zu verteidigen. Die angesprochenen Krisen, die in zahlreichen Artikeln auf der Webseite der MAGHREB-POST beschrieben und erläutert wurden, führten dazu, dass die Akzeptanz für Marokkos Hoheitsanspruch und den vorgelegten Autonomieplan gestiegen ist. Sofern die EU-Mitgliedstaaten weiterhin Geschäfte mit Marokko machen möchten und das Land weiterhin den Torwächter in der Migrationsfrage spielen soll, könnte man in Brüssel, Berlin, Paris, Rom oder Madrid dazu gezwungen sein, nicht nur den Autonomieplan zu unterstützen, sondern Marokko bei der Durchsetzung des Hoheitsanspruchs auf der Ebene der UNO zu unterstützen. Das nordafrikanische Königreich hat klar gemacht, dass es Zusammenarbeit und Abkommen nur gibt, wenn Gesamtmarokko inklusive der Westsahara einbezogen wird. Folglich müssten die EU-Staaten die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Ansonsten würde sich das Land unter Umständen, ähnlich wie die Türkei, von der EU abwenden und Länder wie Japan, China, Großbritannien oder auch Russland einladen, vor der Atlantikküste der Westsahara auf Fischfang zu gehen, während europäische Fischer in den eigenen Häfen protestieren, oder frisches Gemüse oder zukünftig Wasserstoff aus weniger politisch stabilen Ländern Nordafrikas oder Westafrikas zu importieren. Auch die Länder, die sich jetzt über das Urteil gefreut haben, könnten dann das Nachsehen haben, wenn sich die EU-Staaten, auch aus Sorge vor weniger gemilderter Migration, auf die Seite Marokkos stellen.
Hier steht dem EU-Rat und dem EU-Parlament unter Umständen eine heiße Debatte bevor.
Fazit:
Das EuGH-Urteil über das Agrar- und Fischereiabkommen mit Marokko hat deutlich gemacht, wie gespalten die Reaktionen innerhalb der EU und ihrer Nachbarstaaten sind. Während Deutschland das Völkerrecht respektiert und gleichzeitig die strategische Partnerschaft mit Marokko betont, stellt Spanien seine wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund. Frankreich unterstreicht seine unerschütterliche Unterstützung für Marokko, und die Europäische Kommission versucht, zwischen rechtlichen Normen und geopolitischen Interessen zu balancieren. Algerien hingegen sieht in dem Urteil eine Bestätigung seiner Position im Streit um die Westsahara. Die kommenden Monate werden zeigen, ob es der EU gelingt, eine einheitliche Position zu entwickeln, die sowohl ihre rechtlichen Verpflichtungen als auch ihre strategischen Interessen wahrt.