Gegen 20 Abgeordnet sind Strafverfahren anhängig und sechs von ihnen sitzen in verschiedenen Gefängnissen in Marokko. Ihr Status als Mandatsträger bleibt dennoch bestehen.
Rabat – Das Vertrauen in politische Akteure und Institution schwindet weltweit und das Misstrauen gegenüber Abgeordneten in Marokko war schon immer groß. Das Land leidet seit Jahrzehnten unter Korruption und der ehemalige PJD Regierungschef El Othmani bezifferte in einer seiner Reden vor dem Parlament den Schaden für die nationale Volkswirtschaft auf bis zu 7% des BIP.
Immer wieder kommt es zu Anschuldigungen wie Unterschlagung von Staatseigentum, Vorteilsnahme oder Bestechung.
Derzeit ist der Ruf des marokkanischen Parlaments besonders belastet, den nach marokkanischen Medienberichten gab es gegen im Amt befindliche Politikerinnen und Politiker noch nie so viele laufende Strafverfahren oder Inhaftierungen, wie derzeit.
Von den 395 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses werden mindestens zwanzig aus fast allen politischen Lagern wegen schwerwiegender Vorfälle strafrechtlich verfolgt, in der Regel im Zusammenhang mit der Veruntreuung oder Verschwendung öffentlicher Gelder, seltener wegen gewöhnlicher Straftaten.
Mindestens sechs Parlamentarier befinden sich derzeit hinter Gittern, weil sie verurteilt wurden und inhaftiert sind oder in Untersuchungshaft sitzen oder auf den Ausgang ihres Prozesses warten.
Sechs schwerwiegende Fälle
Laut dem Nachrichtenportal Le360 befinden sich Babour Sghir (5 Jahre Haft), Mohamed El Hidaoui (18 Monate Haft), Mohamed Moubdii (Untersuchungshaft), Rachid El Fayek (5 Jahre Haft), Yassine Radi (1 Jahr Haft) und Abdelkader El Boussairi (Untersuchungshaft) im Gefängnis.
Einer der bekanntesten Fälle ist der des Abgeordneten Babour Sghir aus Settat (Union constitutionnelle, Opposition), der im März 2022 wegen Betrugs in Höhe von mehreren hundert Millionen Dirham zu fünf Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt wurde und in einem anderen Betrugsfall, der derzeit von der Justiz untersucht wird, strafrechtlich verfolgt wird.
Der andere schwerwiegende Fall stehe in Zusammenhang mit dem Abgeordnete Rachid El Fayek (Rassemblement national des indépendants RNI, Regierungspartei). Der ehemalige Gemeindepräsident von Aïn Baïda, einem Vorort von Fés, wurde zweimal verurteilt, unter anderem zu fünf Jahren Gefängnis ohne Bewährung wegen Vergewaltigung einer behinderten Minderjährigen.
Verurteilte Mandatsträger behalten ihre Ansprüche und Privilegien
Trotz der Situation regt sich angesichts der Folgen für die Mandatsträger und hinsichtlich ihrer Ansprüche und Privilegien zunehmend Kritik. Sowohl im Fall von Babour Sghir als auch im Fall von Rachid El Fayek oder dem ehemaligen Minister Mohamed Moubdiî tragen die verurteilten Mandatsträger weiterhin den Titel Abgeordneter und behalten alle damit verbundenen Vorteile, angefangen bei ihren Diäten.
Hintergrund ist die Gesetzeslage. Es scheinen sich die Stimmen zu mehren, dass verurteilte Abgeordnete ihr Mandat verlieren sollen. Doch die aktuelle Geschäftsordnung des Parlaments geht auf den Fall einer strafrechtlichen Verurteilung nicht ein. Ein Entzug des Sitzes im Abgeordnetenhaus oder Repräsentantenhaus ist nur zulässig, wenn eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter ohne triftigen Grund mehr als ein Jahr abwesend geblieben ist. Bei Strafverfahren muss das Parlament die Rechtskräftigkeit eines Urteils abwarten.
„Derzeit muss das Urteil rechtskräftig sein, um das Verfahren zur Aberkennung der Immunität zu aktivieren, und die meisten betroffenen Abgeordneten entscheiden sich dafür, bis zum Ende zu gehen, d. h. bis zum Kassationsgericht. Und das kann Jahre dauern“, habe ein Abgeordneter der Mehrheitsfraktion gegenüber dem Nachrichtenportal Le360 erläutert.
Abgeordnete kleben an ihren Sitzen.
Wer jetzt allzu schnell ein härteres Vorgehen fordert, sollte bedenken, dass unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zunächst die Unschuldsvermutung zu gelten hat, bis die Schuld bewiesen ist. Solange hat dann auch ein Mandatsträger oder eine Mandatsträgerin das Recht sich zu verteidigen und das Mandat, für das er oder sie ja gewählt worden ist, auszuüben. Die Verankerung eines Mandatsentzugs, z.B. in der Geschäftsordnung des Parlaments, bereits bei Anklage oder einem Urteil in erster Instanz oder gar einer Inhaftierung, könnte Tür und Tor für Intrigen und politisch motivierte Anschuldigungen öffnen.
Zugleich ist es aber auch schwierig nachzuvollziehen, wie ein gewählter Mandatsträger sein Amt ausfüllen soll, wenn er sich in existenziellen Rechtsstreitigkeiten befindet oder gar in Haft sitzt.
Genauso muss aber auch darüber beraten werden, wie zukünftig mit solchen Gegebenheiten umzugehen ist, auch unter Berücksichtigung, dass für gewählte Abgeordnete, die das Vertrauen ihrer Wählerinnen und Wähler genießen, höhere moralische Ansprüche gelten müssen.
Einige Parteien hätten sich dafür entschieden, ihre vermeintlich „schmutzige Wäsche“ intern zu „waschen“ und das Problem auf diese Weise zu lösen. „Verantwortliche des RNI haben versucht, Rachid El Fayek davon zu überzeugen, seinen Sitz aufzugeben und der Person, die ihm auf der Liste folgt, zu erlauben, seinen Platz einzunehmen, aber er habe davon nichts wissen wollen. Die USFP hätte das Gleiche mit Abdelkader El Boussaïri versucht, jedoch ohne Erfolg“, berichtet das Nachrichtenportal weiter.
Die einzige bekannte Reaktion der politischen Parteien auf die Verurteilung oder strafrechtliche Verfolgung eines ihrer Abgeordneten betrifft nur diejenigen, die in der Parteiführung Verantwortung tragen, und beschränkt sich auf die Erklärung, dass der Abgeordnete bis zum Abschluss der Ermittlungen von seinen Parteiämtern suspendiert wird. Die Volksbewegung (MP, Opposition) hat im Fall von Mohamed Moubdiî so gehandelt, ebenso wie die RNI im Fall von Mohamed El Hidaoui, berichtet Le360 abschließend.