Königliche Vision, staatlicher Kraftakt – Wie Rabat mit direkter Sozialhilfe und digitaler Plattform Millionen Menschen erreichen will – und welche Fragen offenbleiben
Rabat – Die marokkanische Regierung sieht sich auf einem klaren Kurs: Mit einem umfassenden Programm zur Verallgemeinerung des Sozialschutzes will sie nicht weniger als den strukturellen Wandel des Landes im sozialen Bereich einleiten. Regierungschef Aziz Akhannouch präsentierte am Dienstag im Parlament eine ambitionierte Bilanz – und untermauerte sie mit Zahlen: 26,5 Milliarden Dirham (ca. 2,5 Milliarden Euro) stehen 2025 für direkte Sozialhilfe bereit, bis 2026 sollen es 29 Milliarden sein. Das entspreche rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, womit Marokko im afrikanischen Vergleich eine Spitzenposition einnehme.
Die Architektur des neuen Sozialstaates – Marokko setzt auf digitale Plattformen
Zentraler Bestandteil der Reform ist die direkte finanzielle Unterstützung bedürftiger Familien. Die Initiative, auf Grundlage „Hoher Königlicher Instruktionen“ gestartet, richtet sich laut Akhannouch an rund vier Millionen Haushalte, die bisher außerhalb formaler Sozialsysteme standen. Je nach familiärer Situation sollen sie zwischen 500 und 1.200 Dirham pro Monat erhalten.
Dabei geht es laut dem Regierungschef nicht nur um finanzielle Entlastung, sondern um einen „modernen Sozialstaat“, der soziale Gerechtigkeit garantiert und inklusive Entwicklung ermöglicht. Die Mittel dazu: eine digitale Plattform (www.asd.ma), gestartet im Dezember 2023, sowie der Ausbau institutioneller und logistischer Kapazitäten der Sozialverwaltung.
Digitale Plattform, analoge Probleme?
Der Start der digitalen Infrastruktur sei laut Akhannouch ein Erfolg. Rund 12 Millionen Menschen sollen inzwischen Leistungen beziehen – darunter über 5,5 Millionen Kinder und eine Million Senioren über 60 Jahre, die pauschale Alterszuschüsse erhalten. Weitere 3,2 Millionen Haushalte nutzen die obligatorische Krankenversicherung (AMO).
Doch auch wenn die Zahlen beeindrucken, bleiben zentrale Fragen offen: Wie nachhaltig ist die Finanzierung bei wachsender Zielgruppe und steigender Inflation? Wie wird der tatsächliche Bedarf überprüft und Missbrauch verhindert? Kritiker, vor allem außerhalb des Regierungslagers, fordern mehr Transparenz bei der Mittelverwendung und warnen vor der Gefahr klientelistischer Verteilung, z.B. an bekannte und gewünschte Wählergruppen.
Eine Frage von Würde und Gerechtigkeit
Trotz dieser Fragen stellt die Regierung das Programm als zivilisatorischen Fortschritt dar. „Es spiegelt die humanitäre Tiefe des Königreichs wider“, sagte Akhannouch laut der staatlichen Nachrichtenagentur MAP. Die direkte Sozialhilfe sei ein zentrales Element der sozialen Verantwortung und ein Mittel, um die Würde der ärmsten Bevölkerungsschichten zu sichern.
Ob diese Vision Wirklichkeit wird, hängt nun von der Umsetzung ab – und davon, wie konsequent die Regierung bereit ist, auch kritische Begleitfragen offen zu diskutieren. Sicher ist: Mit dem Programm für direkte Sozialhilfe ist in Marokko ein groß angelegter gesellschaftlicher Umbau im Gange, der viele Chancen birgt – aber auch das Risiko politischer und wirtschaftlicher Verwerfungen, wenn Erwartungen enttäuscht werden.