Deutliche Worte zur Lage des Bildungssystems – Bildungsexpertin Rahma Bourqia analysiert die tiefgreifenden Defizite des marokkanischen Schulsystems und ruft zu grundlegenden Reformen auf
Rabat – In einem kürzlich veröffentlichten Interview mit dem Nachrichtenportal Al Ahdath Al Maghribia hat die marokkanische Soziologin und Bildungsexpertin Rahma Bourqia scharfe Kritik an den strukturellen Schwächen des nationalen Bildungssystems geübt.
Die ehemalige Universitätsrektorin und Direktorin des Observatoriums für Bildung und Ausbildung sprach von „Sackgassen“ („impasses“), die sowohl das öffentliche Schulwesen als auch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung blockieren. Ihr Fazit: Ohne tiefgreifende Reformen droht Marokko, das Potenzial seiner Jugend nicht nur zu vergeuden, sondern auch die sozioökonomische Entwicklung des Landes ernsthaft zu gefährden.
Schlechte Lernergebnisse trotz Ausweitung der Schulpflicht
Rahma Bourqia weist in ihrer Analyse darauf hin, dass Marokko trotz der Erfolge bei der Ausweitung der Schulpflicht und dem gestiegenen Zugang zu Bildungseinrichtungen weiterhin mit einer niedrigen Bildungsqualität kämpft. Die Resultate nationaler und internationaler Bewertungsstudien zeigen demnach regelmäßig, dass ein erheblicher Teil der Schülerinnen und Schüler grundlegende Kompetenzen in Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen nicht erreicht.
Dieses Leistungsdefizit beginne bereits auf der Primarstufe, verfestige sich in der Sekundarstufe und habe langfristige Auswirkungen auf die Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen. „Es ist nicht genug, nur die Quantität zu erhöhen – die Qualität der Bildung muss ins Zentrum der Debatte rücken“, so Bourqia.
Mangelnde soziale Mobilität und wachsende Ungleichheiten
Ein zentrales Problem sei laut Bourqia die wachsende Kluft zwischen dem öffentlichen und privaten Bildungssektor. Während wohlhabendere Familien ihre Kinder zunehmend auf Privatschulen schicken, bleibt der Großteil der Bevölkerung auf das chronisch unterfinanzierte öffentliche System angewiesen. Diese Entwicklung untergrabe nicht nur das Vertrauen in staatliche Institutionen, sondern verschärfe auch die sozialen Ungleichheiten im Land.
„Die Schule erfüllt ihre traditionelle Rolle als Instrument der sozialen Mobilität immer weniger“, warnt Bourqia. Bildung verliere zunehmend ihren Charakter als Aufstiegschance und werde stattdessen zum Reproduktionsmechanismus bestehender sozialer Hierarchien.
Fehlende Kohärenz zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt betrifft die mangelnde Abstimmung zwischen Ausbildungsinhalten und den tatsächlichen Bedürfnissen des Arbeitsmarktes. Die Soziologin kritisiert, dass viele Absolventinnen und Absolventen keine ausreichende Vorbereitung auf die Realität der Berufswelt erhalten. Dies führe zu hoher Jugendarbeitslosigkeit, insbesondere unter Hochschulabsolventen.
Bourqia fordert daher eine Neuausrichtung der Curricula, engere Kooperationen mit der Wirtschaft sowie die Stärkung praxisorientierter Ausbildungsmodelle. „Es braucht einen funktionalen Zusammenhang zwischen Bildung und Beschäftigung“, betont sie.
Bildungspolitik als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Für Bourqia ist klar: Die Bildungsfrage ist kein isoliertes Politikfeld, sondern eng mit der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, der politischen Stabilität und der sozialen Kohärenz des Landes verbunden. Die derzeitige Dynamik genüge nicht, um die bestehenden Herausforderungen zu bewältigen. Es brauche einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die strategische Bedeutung von Bildung sowie langfristige, evidenzbasierte Reformansätze.
Insgesamt sieht sie in der aktuellen Situation einen kritischen Wendepunkt. Die politische Führung müsse nicht nur die strukturellen Defizite anerkennen, sondern auch klare Prioritäten setzen – sowohl bei der Mittelverwendung als auch bei der institutionellen Reform.
Ein möglicher Weckruf mit politischer Tragweite
Die Aussagen von Rahma Bourqia fügen sich in eine wachsende Zahl von Stimmen, die auf die tiefgreifenden Probleme im marokkanischen Bildungswesen aufmerksam machen. Dabei geht es nicht nur um didaktische oder administrative Details, sondern um die grundlegende Frage, ob das Bildungssystem in der Lage ist, eine junge, schnell wachsende Bevölkerung in eine wirtschaftlich nachhaltige und sozial gerechte Zukunft zu führen.
Die kommenden Monate dürften zeigen, inwieweit die politischen Entscheidungsträger bereit sind, auf diese Warnungen zu reagieren – und ob Marokko bereit ist, einen echten Neustart im Bildungsbereich zu wagen.