Umstrittene Aussagen zur Westgrenze Algeriens zur Marokko führten zur Inhaftierung des französisch-algerischen Autors – Paris fordert weiterhin seine Freilassung
Algier – Der algerisch-französische Schriftsteller Boualem Sansal ist am heutigen Dienstag, dem 1. Juli 2025, in Algier erneut zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Berufungsgericht bestätigte damit das Urteil der ersten Instanz vom 27. März dieses Jahres, das vom Gericht in Dar El Beida ergangen war. Die Verurteilung erfolgt unter anderem wegen der „Verletzung der Integrität des Staatsgebiets“, wie algerische Medien berichten.
Der 75-jährige Sansal war am 16. November 2024 bei seiner Ankunft am Flughafen in Algier festgenommen worden. Vorausgegangen waren umstrittene öffentliche Äußerungen auf einer französischen Internetplattform, in denen er die territoriale Integrität Algeriens infrage gestellt hatte.
Politisch aufgeladene Aussagen
Konkret hatte Sansal erklärt, ein Teil des heutigen Westalgeriens gehöre historisch zu Marokko. Diese Aussage wurde in Algerien als Provokation aufgefasst, insbesondere im Kontext der anhaltenden Spannungen zwischen Algerien und Marokko, die sich unter anderem an der Westsahara-Frage entzündet haben. Marokko beansprucht die Region als eigenes Staatsgebiet, Algerien unterstützt hingegen die selbsternannte Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario, sowohl logistisch, politisch wie auch militärisch.
Die Äußerungen Sansals griffen eine politisch heikle Frage auf und wurden von algerischen Behörden als Gefährdung der nationalen Einheit gewertet. Tatsächlich ist das aktuell größte Flächenland Afrikas in seiner jetzigen Ausdehnung während der französischen Kolonialzeit und des französischen Protektorats über Marokko entstanden. Nach dem Abzug Frankreichs hinterließ Paris offene Grenzfragen zwischen den bis heute streitenden Nachbarländern. Sansals französische Staatsangehörigkeit, die er erst 2024 erhielt, schützte ihn nicht vor strafrechtlicher Verfolgung in Algerien.
Frankreich übt diplomatischen Druck aus
Die Verhaftung Sansals führte zu einer deutlichen Verschlechterung der ohnehin angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen Paris und Algier. In Frankreich löste der Fall insbesondere im rechten und rechtsextremen politischen Spektrum scharfe Kritik aus. Mehrere Politiker forderten die sofortige Freilassung des Autors.
Auch auf diplomatischer Ebene bemühte sich die französische Regierung um eine Lösung: Bereits im März hatte Präsident Emmanuel Macron den algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune telefonisch gebeten, eine „Geste der Menschlichkeit“ zu zeigen. Er verwies dabei auf Sansals fortgeschrittenes Alter und seinen gesundheitlichen Zustand. Die Bitte blieb bislang unbeantwortet.
Am Wochenende vor dem Urteil erneuerte Frankreichs Außenminister Jean-Noël Barrot die Forderung nach Freilassung. Innenminister Bruno Retailleau, ein persönlicher Freund Sansals, äußerte sich am Dienstag im französischen Radiosender France Inter zurückhaltender: „Sie werden verstehen, dass ich in diesen Momenten keine Chance, nicht einmal die geringste, verpassen möchte, um Boualem Sansals Freilassung zu erreichen“, so Retailleau laut France Inter.
Kassation oder Begnadigung
Das aktuelle Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Boualem Sansals Anwälte können innerhalb einer gesetzlich vorgesehenen Frist Berufung beim Obersten Gerichtshof Algeriens einlegen. Alternativ besteht die Möglichkeit einer präsidentiellen Begnadigung, die jedoch der Zustimmung des algerischen Präsidenten bedarf.
In Anbetracht der angespannten diplomatischen Lage und der Symbolkraft des Falls ist bislang offen, ob die algerische Regierung einem solchen Schritt zustimmen wird. Beobachter sehen im Fall Sansal sowohl eine juristische als auch eine politische Dimension, da die Vorwürfe stark mit der außenpolitischen Rhetorik Algeriens gegenüber Marokko verknüpft sind.
Literatur, Identität und politische Grenzen
Boualem Sansal gilt als einer der bekanntesten französischsprachigen Schriftsteller Nordafrikas. Seine Werke thematisieren oft die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen Algeriens, darunter Islamismus, Bürokratie, Geschichtsaufarbeitung und Korruption. In Frankreich genießt er hohes Ansehen, wurde vielfach ausgezeichnet und häufig als kritischer Intellektueller zitiert.
Seine politischen Positionen, insbesondere zur Vergangenheit Algeriens, waren allerdings in seiner Heimat stets umstritten. Die jetzige Verurteilung steht nicht nur für eine rechtliche Reaktion auf umstrittene Aussagen, sondern wird auch als Ausdruck der zunehmenden Verengung des öffentlichen Meinungsklimas in Algerien interpretiert.
Der Fall Boualem Sansal bleibt ein politisch sensibles Thema mit Auswirkungen über die algerischen Grenzen hinaus. Er berührt Fragen der Meinungsfreiheit, des nationalen Selbstverständnisses und der französisch-algerischen Beziehungen. Die Reaktionen aus Paris zeigen, dass der Druck auf Algerien wächst – ob das Gerichtsurteil Bestand hat oder durch politische Wege revidiert wird, bleibt abzuwarten.