Französische Zeitung Le Monde analysiert das enger werdende Verhältnis zwischen Algerien und Tunesien
Paris – Die bekannte und renommierte Zeitung Le Monde hat sich mit den neuen Machtverhältnissen und Allianzen im Maghreb beschäftigt und vor allem den immer stärker werdenden Einfluss Algeriens auf Tunesien analysiert. Dabei kommt Le Monde zu der Einschätzung, dass Algerien einen Schatten auf sein Nachbarland wirft.
Diese Einschätzung hat die französische Tageszeitung Le Monde am vergangenen Donnerstag, 15. September 2022, in einem ausführlichen Artikel aufgeworfen.
Tunesien ist für Algier von strategischer Bedeutung.
Für die Regierung in Algier sei Tunesien von strategischer Bedeutung geworden, da das neue Bündnis zwischen Marokko und Israel, das seit der Normalisierung im Dezember 2020 stetig bekräftigt wird, die Furcht vor einer Einkreisung durch den Westen und den Osten verstärkt habe. Hinzu kommt, dass eine wichtige algerische Gaspipeline nach Italien und damit nach Europa durch Tunesien verläuft.
Im Laufe der vergangenen Monate gab Tunesien, das am Rande des finanziellen Bankrotts stand, schließlich einigen der algerischen Forderungen nach. Daraufhin habe Algerien reibungslos ein Darlehen in Höhe von 300 Millionen US-Dollar freigegeben, berichtete die Tageszeitung Le Monde in ihrer Analyse.
Tunesien soll keine Beziehungen zu Israel aufbauen.
Allmählich begann Kais Saïed in Algier für Unsicherheiten zu sorgen, insbesondere nach hartnäckigen Gerüchten und Medienberichten darüber, dass ein Prozess der Normalisierung der diplomatischen bzw. politischen Beziehungen zwischen Tunesien und Israel im Jahr 2021 begonnen hatte.
Die von der israelischen Tageszeitung „Israel Hayom“ im Juni veröffentlichten Informationen über „nicht näher bezeichnete diplomatische Kontakte zwischen Tunesien und Israel“ haben die Ängste der Algerier weiterwachsen lassen“, analysierte Le Monde.
Daraufhin begannen die Algerier zu agieren. „Zunächst mit Hilfe von Gaslieferungen, aus denen Tunesien 99% seiner Elektrizität bezieht. Und anschließend die Schließung der Grenzen, in deren Folge die tunesische Wirtschaft, insbesondere der Tourismus, ernsthaft leidete“, so Le Monde weiter. Hierbei ist anzumerken, dass die Grenzschließungen auch mit der COVID-19 Pandemie zusammengefallen sind.
Diese beiden politischen Machtinstrumente führten augenscheinlich zum gewünschten Ergebnis. Am 5. Juli 2022 wurde der tunesische Präsident zu den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens eingeladen. Er bekam demonstrativ einen Platz auf der Ehrentribüne neben Mahmoud Abbas, dem Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde, und Brahim Ghali, dem Generalsekretär der Polisario Font. Der Schauplatz hätte nicht besser seien können, so die französische Tageszeitung,
Am 15. Juli 2022 öffnete Algier die Grenze wieder und rettete damit die tunesische Tourismussaison. Am 21. Juli lieferte Algier den nach Algerien geflohenen ehemaligen Chef des tunesischen Geheimdienstes, Lazhar Longo, an Tunis aus.
Ein ehemaliger tunesischer Diplomat vermutet, dass Algerien inzwischen einen sehr starken Einfluss auf die inneren Angelegenheiten Tunesiens ausübt und dass keine wichtige Entscheidung ohne seine Zustimmung getroffen werden kann. So soll Algerien beispielsweise die Festnahme und Inhaftierung des Führers der wichtigsten islamistischen Bewegung Tunesiens verhindert haben.
Marokko soll isoliert werden.
All dies richtet sich gegen Marokko. Hatte Tunesien sich aus dem Streit um die Westsahara zwischen Rabat und Algier soweit möglich herausgehalten und gute Beziehungen zu Marokko gepflegt, hat sich dies in den letzten Jahren und insbesondere seit Ausbruch der Wirtschaftskrise nach den Terroranschlägen geändert. Marokkos König Mohammed VI. besuchte gleich nach den verheerenden Terroranschlägen 2015 Tunesien. Ein zunächst kurzer Besuch, wurde auf mehrere Tage verlängert und der marokkanische König lief demonstrativ und nur mit geringer Bewachung wie ein Tourist durch die Straßen von Tunis, sprach mit Passanten und ließ sich fotografieren, um der arabischen und westlichen Welt zu zeigen, dass Tunesien ein sicheres Land sei, dass man als Tourist besuchen kann. Zwischen beiden Ländern besteht Visafreiheit auch ein Handelsabkommen, um den Austausch Besuchern, von Waren sowie Dienstleistern zu vereinfachen. Tunesien ist für Marokko einer der wichtigsten Lieferanten für Druckerzeugnisse, z.B. Schulbücher.
Doch die wirtschaftliche Not in Tunesien ist inzwischen sehr groß und der Staat schafft es, nur mit großer Anstrengung, die Gehälter seiner Beamten zu zahlen. Für Investitionen und Wirtschaftsreformen fehlt das Geld. Die COVID-19 Pandemie ergab das übrige.
Der tunesische Präsident Saied scheint in Algerien die nötige Hilfe zu finden. Diese Hilfe ist aber nicht kostenlos. Tunesien soll einen unmissverständlichen Bruch mit Marokko vollziehen, die Polisario anerkennen und sich an einer neuen Maghreb-Union mit Libyen und Ägypten ohne Marokko beteiligen.
Algier ist mit seinem Druck auf Tunesien auch sehr erfolgreich. Nach dem Empfang von Polisario-Führer Brahim Ghali beim TICAD – Gipfel (26. August 2022) in vergleichbarer Art, wie es jedem anderen Staatsoberhaupt gebührt hat, ist nicht nur Rabat brüskiert und verärgert worden, sondern es kam zum Rückruf der jeweiligen Botschafter.
Welche Folgen auf Tunesien noch zukommen, wird der Gipfel der „Arabischen Liga“ Anfang November zeigen, der in Algier stattfinden wird. Derzeit steht die Mehrzahl der Mitgliedsländer auf der Seite Marokkos und eher weniger auf der Seite Algeriens. Wenn diese Haltung jetzt, vor allem von den Golfstaaten, auf Tunesien ausgeweitet wird, könnte der Einfluss Algeriens auf Tunesien weiter anwachsen.