Königreich Marokko erinnert sich an die Kolonialherrschaft Frankreichs und Spaniens, am seinen Unabhängigkeitskampf und seinen Weg zu einer Nation
Rabat – Marokko, ein Land an der Schnittstelle von Europa, Afrika und der arabischen Welt, hat eine bewegte Geschichte, die durch die koloniale Herrschaft, den Kampf um Unabhängigkeit und die Herausforderungen des modernen Staatsaufbaus geprägt ist. Vom französischen Protektorat, der spanischen Besatzung, über die entscheidenden Jahre des Freiheitskampfes bis hin zu aktuellen Konflikten wie der Westsahara-Frage hat Marokko eine einzigartige nationale Identität geformt, die sowohl von Kontinuität als auch von Wandel geprägt ist.
Die Zeit des französischen Protektorats (1912–1956)
Mit dem Vertrag von Fès im Jahr 1912 wurde Marokko offiziell ein französisches Protektorat, während Spanien die Kontrolle über einige nördliche und südliche Regionen erhielt, darunter die Region Tétouan und dem Rif im Norden und die Westsahara. Formal blieb der Sultan an der Macht, doch die französische Verwaltung kontrollierte de facto die politischen und wirtschaftlichen Geschicke des Landes.
Frankreich verfolgte eine Doppelstrategie: Einerseits wurden moderne Infrastrukturen wie Eisenbahnlinien und Städte wie Casablanca aufgebaut, andererseits wurde die einheimische Bevölkerung wirtschaftlich und sozial marginalisiert. Viele Marokkaner litten unter Landenteignungen, hoher Besteuerung und Diskriminierung zugunsten der französischen Siedler. Diese Ungerechtigkeiten legten den Grundstein für den späteren Widerstand.
Ein frühes Zeichen des Aufbegehrens war die Rif-Rebellion (1921–1926), angeführt von Abdelkrim al-Khattabi. Die marokkanischen Amazigh, die Ureinwohner im Rif-Gebirge, wehrten sich gegen die koloniale Unterdrückung und gründeten kurzzeitig die Rif-Republik, die jedoch von französischen und spanischen Truppen brutal niedergeschlagen wurde. Diese Rebellion blieb ein Symbol des Widerstands gegen die Kolonialherrschaft.
Der Unabhängigkeitskampf
In den 1930er-Jahren begann eine intellektuelle und politische Bewegung, die schließlich den Grundstein für die Unabhängigkeitsbewegung legte. Nationale Führer wie Allal al-Fassi, der Gründer der Istiqlal-Partei, forderten nicht nur die Unabhängigkeit, sondern auch die kulturelle Wiederbelebung Marokkos. Die Istiqlal-Partei, gegründet 1944, wurde zum wichtigsten Sprachrohr der Unabhängigkeitsbewegung. Bis heute spielt die Partei eine Schlüsselrolle in der marokkanischen Politik und ist auch aktuell Teil der Regierungskoalition unter Premierminister Aziz Akhannouch (RNI).
Ein zentraler Akteur war Sultan Mohammed V., der von den Franzosen zunächst als symbolischer Herrscher ohne Macht anerkannt wurde, sich jedoch zunehmend mit der Unabhängigkeitsbewegung solidarisierte. Seine Weigerung, koloniale Interessen über die seines Volkes zu stellen, machte ihn zur zentralen Figur des Widerstands. Als Frankreich ihn 1953 ins Exil zwang, löste dies landesweite Proteste und eine Eskalation der Gewalt aus. Die Guerillabewegung Armée de Libération Nationale griff französische Stützpunkte an, was Frankreichs Position schwächte.
Der Druck auf die Kolonialmacht wuchs, insbesondere angesichts der Entkolonialisierungsbewegungen weltweit. Nach Sultan Mohammeds Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1955 einigten sich Frankreich und Marokko auf einen friedlichen Übergang. Am 2. März 1956 erlangte Marokko seine Unabhängigkeit; die spanischen Protektoratszonen folgten kurz darauf.
Marokko ist es gelungen, seine Unabhängigkeit ohne einen umfassenden, grausamen und brutalen Krieg gegen die Kolonialmächte erleiden zu müssen, wie es im Nachbarland Algerien geschehen ist, weshalb es kein tiefes und kollektives Trauma zu bewältigen hat. Wobei dies eingeschränkt gilt. Der sog. Rif-Krieg hat bis heute seine Spuren in der Bevölkerung im Nordosten des Landes hinterlassen, nicht nur psychisch, sondern auch physisch, z.B. durch von Giftgas verseuchte Böden, dass vor allem von spanischen Truppen, unter anderem unter dem Befehl des späteren Diktators General Franco, eingesetzt worden war.
Der Unabhängigkeitskampf wird jährlich am 18. November, dem marokkanischen Unabhängigkeitstag, gefeiert. Dieses Datum erinnert an die symbolträchtige Rede Sultan Mohammeds V. im Jahr 1955, mit der er die Rückkehr des Landes zur Souveränität einleitete. Der 18. November ist ein zentraler Feiertag, der das Ende der kolonialen Herrschaft und den Beginn einer neuen Ära für Marokko markiert.
Schlüsselereignisse während des Protektorats und des Unabhängigkeitskampfes
- Rif-Rebellion (1921–1926): Abdelkrim al-Khattabi führte eine der bedeutendsten antikolonialen Aufstände der Region, die schließlich das Interesse der internationalen Gemeinschaft weckte.
- Exil von Sultan Mohammed V. (1953): Die Absetzung und Verbannung des Sultans mobilisierte breite Teile der Bevölkerung und führte zu einer Radikalisierung des Unabhängigkeitskampfes.
- Rückkehr Mohammeds V. (1955): Die Rückkehr des Sultans markierte einen Wendepunkt, der in die Verhandlungen zur Unabhängigkeit mündete.
Die Folgen der Kolonialisierung
Auch nach der Unabhängigkeit prägte die koloniale Vergangenheit Marokko nachhaltig. Frankreichs Einfluss blieb in Bereichen wie Wirtschaft, Bildung, Verwaltung, Gesetzgebung oder Militär spürbar. Zudem hinterließ die Grenzziehung während der Kolonialzeit ungelöste Konflikte, insbesondere im Verhältnis zu Algerien und in der Westsahara.
Das Verhältnis zu Algerien
Nach seiner Unabhängigkeit hatte Marokko die Bestrebungen der Algerierinnen und Algerier um ihre Unabhängigkeit unterstützt und sich mit den Führern der FLN darauf geeinigt, strittige Fragen nach der Erlangung der algerischen Unabhängigkeit im Einvernehmen zu klären. Doch dazu kam es nicht, weshalb es u.a. ein angespanntes Verhältnis zu Algerien gibt, das 1962 von Frankreich unabhängig wurde. Die koloniale Grenzziehung führte dazu, dass die heutigen Grenzen zwischen beiden Ländern umstritten sind. Im sogenannten „Sandkrieg“ (1963) kam es zu einem militärischen Konflikt, der die Beziehungen langfristig belastete. Algerien beherbergt und unterstützte später die Polisario-Front, die bewaffnet für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft, was die Spannungen weiter verschärfte.
Die Westsahara-Frage
Die Westsahara, ein Gebiet mit strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung, blieb nach Marokkos Unabhängigkeit ein Streitpunkt. Nach dem Rückzug Spaniens 1975 beanspruchte Marokko die Region, während die Polisario-Front, unterstützt von Algerien, für die Unabhängigkeit kämpfte. Der „Grüne Marsch“ von 1975, bei dem Hunderttausende Marokkaner in die Westsahara marschierten, symbolisierte Marokkos Anspruch, führte aber zu einem jahrzehntelangen Konflikt.
Bis heute ist die Westsahara-Frage ungeklärt. Marokko kontrolliert große Teile des Gebiets, während die Polisario eine Exilregierung etabliert hat. Internationale Vermittlungsversuche, einschließlich der UNO, haben bislang keine dauerhafte Lösung gebracht. Marokko erfährt aber seit einigen Jahren eine zunehmend internationale Unterstützung für seinen Anspruch auf die Westsahara / marokkanische Sahara.
Entwicklung Marokkos seit der Unabhängigkeit
Nach der Unabhängigkeit stand Marokko vor der Aufgabe, seine nationale Einheit zu stärken und wirtschaftliche sowie soziale Herausforderungen zu bewältigen. Sultan Mohammed V. wurde 1957 zum König erklärt und legte den Grundstein für die Monarchie, die bis heute eine zentrale Rolle spielt.
König Hassan II. und die „Bleiernen Jahre“
Mohammed V. starb 1961 und wurde von seinem Sohn Hassan II. abgelöst. Hassan II. regierte mit teils harter Hand und zentralisierte die Macht. Seine Amtszeit war geprägt von politischer Repression, wirtschaftlichen Reformen und außenpolitischen Herausforderungen wie dem Westsahara-Konflikt aber auch dem „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West.
Die „Bleiernen Jahre“ (Années de Plomb) wurden durch eine strenge Kontrolle der Opposition, Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Meinungsfreiheit geprägt. Nach der Thronbesteigung durch König Mohammed VI. wurden diese Jahre und die Geschehnisse öffentlich aufgearbeitet.
Die Ära Mohammed VI.: Reformen und Herausforderungen
Mit dem Tod Hassan II. im Jahr 1999 begann eine neue Ära unter König Mohammed VI. Der junge König leitete Reformen ein, die politische Freiheiten erweiterten und soziale Gerechtigkeit förderten. Besonders hervorzuheben ist die Reform des Familienrechts (Moudawana) im Jahr 2004, die die Rechte von Frauen stärkte.
Während des Arabischen Frühlings 2011 blieb Marokko relativ stabil, da König Mohammed VI. auf Proteste mit einer neuen Verfassung reagierte, die die Macht des Parlaments stärkte. Dennoch bleibt die Monarchie die zentrale Institution des Landes.
Wirtschaftliche Modernisierung
Marokko hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht. Es hat sich zu einem Zentrum für Handel und erneuerbare Energien entwickelt. Projekte wie der Noor-Solarkomplex und der Hochgeschwindigkeitszug Al Boraq zeigen die Ambitionen des Landes.
Dennoch bleiben soziale Ungleichheiten, Arbeitslosigkeit und Korruption große Herausforderungen. Der Konflikt um die Westsahara belastet weiterhin die Außenpolitik und die Beziehungen zu Nachbarstaaten wie Algerien.
Fazit
Die Geschichte Marokkos seit der Zeit des französischen Protektorats ist eine Erzählung von Widerstand, Transformation und Anpassung. Trotz der tiefen Narben der Kolonialzeit hat das Land bemerkenswerte Fortschritte gemacht, sowohl in der Modernisierung als auch im Erhalt seiner kulturellen Identität. Doch ungelöste Konflikte wie die Westsahara-Frage und soziale Herausforderungen erinnern daran, dass der Weg zur Stabilität und Gerechtigkeit ein fortwährender Prozess bleibt. Der 18. November, der jährlich als Unabhängigkeitstag gefeiert wird, symbolisiert die Entschlossenheit Marokkos, seine Souveränität zu bewahren und eine moderne Zukunft zu gestalten.